Vor kurzem besuchte ich die Vorschau der neuen Soloausstellung von Julian Charrière „Towards No Earthly Pole” im MASI Lugano. Die Ausstellung wird von La Prairie unterstützt, einem wichtigen Partner der Kultur und Künste. Zum Anlass des exklusiven Previews hatte ich die Möglichkeit, den Künstler persönlich zu treffen und ein Interview mit ihm zu führen.
Vielleicht kannst du mir ein bisschen über den Titel der Ausstellung „Towards No Earthly Pole“ erzählen. Wie bist du darauf gekommen? War es deine Idee?
Julian Charrière: Die Idee, wie auch der Titel für das Projekt kamen 2017 auf einem Schiff auf dem Weg von Ushuaia nach Antarctic Peninsula zustande. Zusammen mit 30 weiteren Künstlerinnen und Künstlern wurde ich auf die erste Antarctic Biennale eingeladen.
Im Rahmen dieser Biennale hatte ich eine Arbeit in Form einer Kokosnuss-Kanone entwickelt, die die erste Waffe sein sollte, die in Antarktika zum Einsatz kommt. Am genannten Ort wollte ich einen Schuss in Richtung Südpol als Anspielung auf den Schuss am Kilimandscharo, wie im Buch von Jules Verne, abfeuern. Nichts verlief wie geplant und die Kanone wurde in unserem Studio in Berlin von der Polizei beschlagnahmt. Somit reiste ich ohne Arbeit auf dem Boot zur Antarctic Biennale.
Der Titel der Ausstellung „Towards No Earthly Pole” zitiert einen Vers des Epitaphs, den der britische Dichter Alfred Tennyson dem Polarforscher John Franklin gewidmet hat, um die letzte Reise seiner heroischen Seele in die andere Welt, also in eine göttliche Welt, zu beschreiben. Er soll auf die Widersprüche eines von der realen Welt losgelösten Wissens verweisen: die Diskrepanz zwischen den Vorstellungen, mit denen wir die Realität wahrnehmen, und der Materie, aus der sie gemacht wird.
Im Bezug auf die gezeigte Arbeit in Lugano sind die Aufnahmen der Arktis das mögliche Ergebnis einer Transformation der Landschaft, die so schnell ist, dass sich das imaginäre Gegenstück nicht an seine neue Form anpassen kann. Anders gesagt: Die Polarregion, von der es nur wenige Aufnahmen gibt, erzeugt in uns Menschen ein starkes Sinnbild. Auch wenn es dort kein Eis mehr gibt, sind unsere Vorstellungen dessen immer noch mit obsoleten Bildern verbunden. Die Region verändert sich so rasant, dass sich unser Bildkonstrukt, welches wir kulturell erlernt und metaphorisch gesprochen wie in einem Rucksack mit uns tragen, nicht schnell genug anpassen kann. Daher der Titel.
Und wie fühltest du dich da, hat es dich berührt?
Julian Charrière: Ja, sehr. Nachts waren wir immer auf dem Deck dieses Eisbrechers. Er war mit modernster Technologie wie zum Beispiel mit verschiedenem Radar und Sonar ausgestattet, besass aber trotzdem ein Suchlicht, welches die ganze Zeit in das Nichts geleuchtet hatte. Schliesslich kam ein riesiger Eisberg, zog an uns vorbei und verschwand sofort wieder in der Dunkelheit. Diese kurze Erscheinung brannte sich bei mir besonders ein und wurde zu einem der stärksten Momenti der Reise. Tagsüber sind dort blaue Eisberge – ein bedrohliches, magisches und supranaturales Momentum der arktischen und antarktischen Nacht. Es sind besondere Orte, da die Zeit dort anders als irgendwo sonst auf der Welt verläuft. Es herrschen zwölf Stunden Sonne und zwölf Stunden Nacht, manchmal sieben. Das menschliche Wesen ist in Tag und Nacht getaktet und da es dort entweder nur Nacht oder nur Tag ist, wird unser ganzer Rhythmus ins Ungleichgewicht gebracht.
Ich habe mir überlegt, wie ich diese Gefühle in eine Arbeit übersetzen kann und wollte diesen versteckten Ort, der zwar existiert, aber von keinem gesehen wird, mit „Towards No Earthly Pole“ in einen Ausstellungsraum versetzen.
Warum benutzt du so viele geologische und auch wissenschaftliche Phänomene in deiner Arbeit?
Julian Charrière: Ich interessiere mich für Geologie und glaube, dass man durch sie viel lernen kann. Sie trägt eine eigene Art der Vermittlung in sich und widerspiegelt ein anderes Zeitalter. Wenn man sich vorstellt, man sei ein Stein, ist die Welt flüssig. Denn die Geologie ist in ihrem Wesen flüssig. Alles bewegt sich. Auch vergisst man oft, dass Glas eine Flüssigkeit ist. Ich bin der Meinung, dass die Kunst innerhalb dieser Funktionsweise auch einen Einfluss darauf hat und bin davon überzeugt, dass Objekte eine eigene Realität und einen eigenen Kosmos haben. Daher beschäftige ich mich viel mit Geologie.
Hast du eine Vision bei deinem Werk, hat es eine tiefere Aussage? Was ist die Rolle des Künstlers während der ökologischen Krisen und wechselnden Klimabedingungen?
Julian Charrière: Ich glaube, die Rolle des Künstlers ist es, eine andere, alternative und abstraktere Art der Oberfläche zu schaffen, welche nicht direkt in die Thematik übergeht, denn damit werden wir bombardiert: Jeden Tag steht in den Zeitungen, dass Grönland schmilzt, die Gletscher verschwinden und ein Wald brennt. Es ist sehr wichtig, dass dies in der Medienwelt präsent bleibt. Oft ist es aber auch sehr einseitig und immer wird die Katastrophe gemalt. Ich glaube aber, dass man als Künstler die Chance und Möglichkeit dazu hat, die Gesellschaft auf eine langsame und abstrakte Art und Weise zu verändern und deswegen eine wichtige Rolle in Diskursen einnimmt. Man kann sich nicht immer nur auf ein Problem konzentrieren, wie die Medien es tun. Die Kunst verändert auf längere Sicht den Blick der Menschheit und der Gesellschaft, denke ich, und kann differenziert wirken, da sie universeller und zeitlos ist. Künstler haben dabei schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Man sieht die Dinge, wie man sie sieht, weil Maler sie irgendwann auf eine gewisse Art und Weise so gemalt haben. Genauso verhält es sich mit dem ersten Foto der Arktis. Man hat ein gewisses Bild der Arktis vor Augen, weil die Künstler und Fotografen es für uns so dargestellt haben. Diese Darstellung erzeugt ein Konstrukt, welches unserer Realität bildet. Ich glaube, dass Künstlerinnen und Künstler heutzutage immer mehr diese Rolle einnehmen werden.
“Die Kunst verändert auf längere Sicht den Blick der Menschheit und der Gesellschaft, denke ich, und kann differenziert wirken, da sie universeller und zeitlos ist.”
-Julian Charrière, Oktober 2019
Was ist mächtiger: die Natur oder der Mensch? Sind Menschen getrennt von der Natur oder sind sie eins?
Julian Charrière: Sie sind nicht zu trennen. Die Symbiose zwischen dem Menschen und der Natur ist aber gerade aus dem Gleichgewicht. Früher hat dieses Zusammenspiel besser funktioniert. Es ist, als sei bei einem Fahrrad die Kette gesprungen. Vielleicht gelingt es uns, die Kette wieder zu einzuspannen. Wir sind von der Natur nicht zu trennen. Das ist das Problem der letzten 200 Jahre. Uns wurde beigebracht, dass wir nicht Teil, sondern Betrachter der Natur seien und es auf der einen Seite die Natur und auf der anderen die Kultur gibt. Dieses Denken verursacht viele Probleme, da wir die Fähigkeit verlieren, uns in dieses System hineinzudenken. Wir denken, dass wir vom System abstrahiert werden und deswegen nicht Teil des Problems sind. Aktuell lernen wir allerdings auf brutale Weise, dass wir Teil des Systems sind und dieses uns nun ein Art ‘Feedback’ gibt. In den nächsten 30 Jahren wird sich wohl zeigen, wie sehr wir das Ungleichgewicht wieder aufholen können.
Ein Werk, das mich persönlich sehr berührt hat, ist der Springbrunnen mit dem Feuer, obwohl ich das erst am Ende bemerkt habe. Kannst du mir etwas mehr über diesen Brunnen erzählen und wie das gemacht wird?
Julian Charrière: Die Arbeit spielt mit mehreren Ebenen. Eine davon ist die Bedeutung des Jungbrunnens, der als ein Symbol des Lebens, aber auch ein Symbol der Siedlung und Gesellschaft verstanden wird. Die Menschheit versammelte sich schon immer um Brunnen. Sie ist stark sozial geprägter Ort, ein Darsteller des ewigen Lebens und Träger vieler Gedanken, die der Mensch sich über die Jahrhunderte dazu gemacht hat.
Die Idee war für mich folgende: Es gibt einen Untergrund, bei dem ich mich wieder auf die Geologie und das Flüssige beziehe. Denkt man an die Erde, so stellt man sich vor, man sitzt auf einer riesigen Lavaschüssel, die die ganze Zeit blubbert. Zwischenliegend befindet sich das ganze Wasser, das Petroleum, das Gas. Darüber befindet sich eine Steinkruste. Dazwischen ist der Mensch und bohrt. Es ist der Versuch, durch diese Bohrungen an den Untergrund zu gelangen, um die Oberfläche zu erweitern. Stösst er dabei auf das Wasser im Untergrund, ist dies ein ungemein beeindruckender Moment. Es ist ein Sinnbild: Feuer, Wasser, Leben und Tod. Dazwischen ist brennendes Butan, ein fossiler Brennstoff. Mich hat dies so beeindruckt, dass ich etwas kreieren wollte, das mit Lugano in Zusammenhang steht. Es ist ein wichtiger Teil der Arbeit, das Lokale mit einzubeziehen. Dadurch, dass die Bewohnerinnen und Bewohner von Lugano persönliche Sinnbilder zu dem Brunnen haben, verbinden sie ortsspezifische Gefühle damit. Es entsteht also ein Bezug zu den lokalen Leuten und destabilisiert auch die Betrachterrolle: Mit einem Mal sieht man das, was man jeden Tag gesehen hat, aus einer vollkommen anderen Perspektive.
Kannst du mir etwas dazu erzählen, wie du beispielsweise diese „durchbohrten” Skulpturen aus dem Haupt-Ausstellungsraum hierher bzw. in dein Studio in Berlin befördert hast? Wie erfolgte die technische Umsetzung?
Julian Charrière: Dieses Projekt war wieder ein Lokalbezogenes. Ich wollte seit Langem mit Findlingen arbeiten. Findlinge sind Steine, die sich an einem Ort befinden, der nicht dem natürlichen Ursprung entspricht. Hierbei sehe ich eine grosse Parallele zu der globalisierten Welt, da diese Materialien in den Umlauf bringt, welche von ihrem natürlichen Ort an einen anderen Ort verlagert werden. Einerseits ist das schrecklich, anderseits birgt es auch positive Komponenten, dass im Zuge von “Global Village” viele Dinge zirkulieren. Mit den Steinen in der Natur ist es ähnlich. Auf einmal sind sie hier, kommen aber aus 350 Kilometer Entfernung und werden plötzlich als “Aussenseiter” im Landschaftsbild der Berge wahrgenommen. Trotzdem gehören sie so fest in das Landschaftsbild, dass man sie dennoch als zugehörig betrachtet. Niemand würde hinterfragen, warum sie da sind. Sie sind über die Jahrtausende und durch die Kräfte der Natur, der geologischen Phänomene und die Eiszeiten bewegt worden. Sie sind sehr schwer und statisch, in der Landschaft verankert, aber immer noch in Bewegung. Ich wollte sie von diesem Ort, an dem sie ohnehin fremd sind, an einen anderen versetzen, an den sie ebenfalls nicht gehören: in den Ausstellungsraum.
Bohren ist ein ganz typischer, einfacher bildhauerischer Akt. Es geht grundsätzlich um negative und positive Räume, um Addition und Subtraktion. Bei den vorliegenden Skulpturen spiele ich mit dem Gedanken, die Steine immer weiter auszuhöhlen und dadurch leichter zu machen. Die Kerne, also die eigene Substanz, wird den Steinen dann so vorgelegt, als ob sich der Stein theoretisch durch diese weiterbewegen könnte. Wenn man einen solchen Stein sieht, wirkt er sehr leicht – als könne man sie wie die Obelisken im alten Ägypten einfach rollen. Man könnte immer weiterbohren und der Stein könnte sich immer weiter fortbewegen. Dies würde irgendwann allerdings mit dem Implodieren des Steins enden, da die Substanz fehlen würde, um den Stein am Leben zu erhalten. Das wäre das Szenario eines Totalkollaps. Auch darum geht es: um lineare Zeit und Fortschritt, wobei ein Objekt durch wiederholte Manipulation immer leichter und kultureller wird.
Du hast bis jetzt mit sehr unterschiedlichen Materialien gearbeitet. Gibt es ein Material oder ein Medium, mit dem du noch nicht gearbeitet hast?
Julian Charrière: Bis jetzt habe ich mich sehr wenig mit Malerei beschäftigt. Während und vor meiner Zeit als Kunststudent habe ich noch öfters gemalt. Ich habe das Medium aber erst einmal zur Seite gelegt. Ich möchte nicht sagen, dass ich nie wieder malen werde, aber es ist in der nächsten Zeit nicht geplant.
Wie ist dein typischer Arbeitstag? Wie gestaltet sich deine Arbeitsroutine?
Julian Charrière: Das ist schwer zu beschreiben, weil ich ständig unterwegs bin. Deshalb habe ich keinen typischen Arbeitstag. Wenn ich in Berlin bin, gehe ich morgens ins Studio zu meinem Team und arbeite dort normalerweise bis spät in die Nacht. Nachts arbeite ich meistens alleine, da ich dann den Freiraum für alle möglichen Dinge habe. Wenn man acht Leute um sich hat, ist man dagegen ständig abgelenkt.
Ist es dann, als sei man mit Freunden zusammen oder ist es wie Arbeiten?
Julian Charrière: Manche meiner Kolleginnen und Kollegen sind sehr gute Freunde von mir, ein freundschaftliches Verhältnis habe ich zu allen. Professionalität ist im Studio aber das A und O. Es muss Freiraum für Entwicklungen geben und ich denke, ich habe dabei die richtige Balance gefunden. Wir können beide Seiten sehr gut miteinander vereinbaren. Im Studio herrscht eine sehr gute Stimmung. Wenn wir am Wochenende arbeiten müssen, ist es sicherlich lockerer. Unter der Woche versuchen wir aber, so viel wie möglich zu leisten.
Wie waren bisher deine Erfahrungen bei deiner Arbeit oder Kooperationen mit La Prairie? Zum Beispiel letztes Jahr in Hong Kong auf der Art Basel, als du anlässlich der Lancierung von White Caviar Crème Extraordinaire eine Multichannel-Installation mit dem Titel „Light upon an Imaginary Space“ im La Prairie Pavillon in der Collectors Lounge präsentiert hast.
Julian Charrière: Das war meine erste Kollaboration mit einer Marke, auch wenn man in diesem Fall lieber von einer Patronage sprechen sollte. Bisher war die Zusammenarbeit gut und fruchtbar. Hier in Lugano hat alles sehr gut funktioniert und La Prairie hat auch sehr eng mit dem Museum zusammengearbeitet. La Prairie hatte einen Abend vor der Eröffnung der Ausstellung einen aussergewöhnlichen Anlass inklusive Pre-Vernissage veranstaltet, mit einem Blick hinter die Kulissen der Produktion, welcher sehr gelungen war.
An was arbeitest du gerade? Was möchtest du, zum Beispiel im kommenden Jahr noch umsetzen?
Julian Charrière: Ich habe für die nächste Zeit nichts Konkretes geplant, weil ich die letzten zwei Jahre extrem viel gearbeitet habe. Nächstes Jahr habe ich zwei grosse Museumsausstellungen in Aargau und Dallas, auf die ich mich konzentrieren muss. Seit Langem möchte ich nach Marquesas gehen. Es gibt dort diese sehr wichtige Malerei von Gauguin, in der er fragt: Where are we from, where are we and where are we going? Ich halte diese Malerei für essentiell. Ich sage nicht, dass ich die Frage beantworten kann, möchte aber gern wieder dorthin, um eine aktuelle Antwort darauf zu suchen. Das ist etwas, was mich interessiert. Denn damals war Marquesas noch wild und auch utopisch, weil die Bevölkerung in perfekter Symbiose mit der Natur war. Jetzt aber herrscht das postkoloniale Trauma in Marquesas und es ist auch ein sehr touristischer Ort geworden. Mich interessiert, wie es dort aussieht. Diese Reise ist aber noch nicht geplant. Ich möchte in dieser Hinsicht zunächst nicht so viel unternehmen. Ich bin viel gereist und möchte jetzt ein bisschen in Berlin bleiben, um wieder in meinem Studio zu sein, ohne mich gleich wieder auf den Weg zu machen.
Besten Dank, merci bien, lieber Julian.
Julian Charrière: Ebenso, vielen Dank!
Infos:
Julian Charrière. Towards No Earthly Pole
27 Oktober 2019 – 15 März 2020
LAC Lugano Arte e Cultura, Lugano
Mehr Infos hier.
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