26. April bis 16. Juni 2019
Mit: Sylvette Burckhardt, Franziska Furter, Sabine Schlatter, Frederike Schweizer, Agnès Wyler
Traum und Wahrheit – ein ungleiches Paar. Träume werden wahr – und die Wahrheit fühlt sich an wie ein Traum. Oder wie ein Albtraum? Seltsam, dass man beim Titel dieser Ausstellung im Helmhaus doch nur an gute Träume denkt. Die fünf Schweizer Künstlerinnen, die alle vom Medium der Zeichnung herkommen, gehen hin und her zwischen Traum und Wahrheit. Als wäre eine Leiter dazwischen, die man mühelos rauf- und runtersteigen kann. Steigen? Abstürzen. Fliegen.
Träume werden wahr: eine naive Vorstellung? Eine trotzige These? Wenn man den Satz immer und immer wiederholt – und wenn man daran glaubt? –, erfüllt er sich. Vielleicht. Die Künstlerin Franziska Furter hat den Satz immer und immer wiederholt: mit einem Stempel auf ein Papier gedrückt. Bis kaum mehr etwas zu lesen war. Als Ausdruck von Hoffnung, die sich nicht unterkriegen lässt. Als Ausdruck von Verzweiflung, weil die Hoffnung Mal für Mal enttäuscht worden ist. Als Ausdruck von Hoffnung, gleichwohl?
Traum und Wahrheit – Hoffnung und Verzweiflung. Darum geht es in den Arbeiten aller fünf an dieser Ausstellung beteiligten Künstlerinnen. Es sind existenzielle Arbeiten. Arbeiten, die vom Innersten handeln, die schreien und sich sehnen, die weinen und frohlocken. Die aber auch spielen und geniessen, reflektieren und sich hingeben. Sie sind von Träumen inspiriert. Oder von der Wahrheit, die wie ein Traum erscheint.
Gemeinsam ist den fünf Künstlerinnen ihre zeichnerische Herkunft. Die Linien gehen weite und versponnene Wege, finden sich auch im Raum wieder, ziehen Kreise und werden Röhren. Gemeinsam ist den Künstlerinnen die Verbindung von Psyche und Körper, von Emotion und Intellekt, von Unmittelbarkeit und Reflexion. Und gemeinsam ist ihnen die Ehrlichkeit, mit der sie ihr Innerstes zeigen. Auch das, was weniger angenehm sein mag: die Unsicherheiten, die Empfindlichkeiten, die Verletzungen. Die Offenheit, mit der sie uns das zeigen, ist tief beeindruckend. Sie zeugt von grosser Stärke.
Mit Ausnahme der Arbeiten von Sylvette Burckhardt, die Manfred Betschart 2006 in seiner Galerie Nordstrasse 152 unter dem Titel «Ein Gesamtkunstwerk» erstmals gezeigt und nach dem Ableben der Künstlerin auch betreut hat, sind in der Ausstellung im Helmhaus fast ausnahmslos Arbeiten zu sehen, die noch nie ausgestellt waren.

Sylvette Burckhardt (1960–2005) hat von 1997 bis 2005 vor allem im legendären Zürcher Club «Spider Galaxy» Nacht für Nacht mit Filzstift kleinformatige Zeichnungen gemacht. Über 4000 waren es – bis der Tod der Serie ein Ende setzte. Inspiriert von Techno-Musik im Dunkeln, von den Bewegungen der Tanzenden, von ihren inneren Bildern und von Drogen, ist ein Gesamtwerk entstanden, das der Leere Reichtum entgegenhalten wollte: die Dichte eines in sich verspannten Linienwerks, die mehr als nur Halt gab. Eine Klarheit, die sich im Komplexen zeigte. Dem haltlosen Rausch gab die Künstlerin eine Form, einen Raum, gab ihm Farben, Rhythmus, Klang. Gab ihm ein Gesicht, einen Körper. In der überwältigenden Gesamtheit des Werks würde man das manisch, obsessiv nennen. Im einzelnen Blatt ist es einfach nur eine selbst konstruierte Wahrheit aus einem Lebenstraum.
Woher kommt diese erstaunliche Intuition im Werk von Agnès Wyler? Die Zürcher Künstlerin (*1961), die aus der französischsprachigen Schweiz stammt und in den USA studierte, schöpft aus Träumen – aber genauso aus der wahren Welt unserer Gegenwart, die sie glasklar durchschaut. Und zurückspiegelt in ihr eigenes Wesen und Werk. Wer bin ich? Wer ist der andere? Worin unterscheiden wir uns? Was verbindet uns? Es sind unsichtbare Linien, die sich hier von Werk zu Werk ziehen: vom Gleichen zum Ungleichen zum Ungleichen zum Gleichen … Erscheinen und Verschwinden, Körperlichkeit und Reflexion werden in einer fein austarierten Balance gehalten: dem Leben als flüchtiger Präsenz gewidmet, der Leichtigkeit der Liebe und der Un(be)greifbarkeit des Todes.

Waghalsig ist auch das Werk der Zürcher Künstlerin Frederike Schweizer (*1961), die seit Jahrzehnten in Wien lebt. Waghalsig, weil sie sich auf die Äste ihrer Wünsche und ihrer Ängste hinauslässt, bis sie zu brechen drohen. Manchmal brechen sie tatsächlich. Dann wird sie aufgefangen von einem Werk, das sie hält, das sie trägt, sie umhüllen könnte, das ihr Kraft und Energie gibt. In unendlicher Kleinarbeit stickt sie ganze Sonnen und Monde, Zweige und Gesichter auf riesige Stoffe, die schliesslich frei an der Wand hängen. Auch sie beweglich, lichtempfindlich, Schatten werfend, sich verbergend, sich offenbarend, sich anschmiegend, konfrontierend. Der Glanz des Garns, die Tausende von Stichen durch den Träger der Kunst, der selbst Kunst ist, diese Durchwirkung des Stoffs wirkt auch im übertragenen Sinn: Sie lässt teilnehmen am Inneren einer Künstlerin, an ihren Empfindungen,
die sie in Botschaften verwandelt. Botschaften, die berühren – Botschaften, zu berühren: seelisch, körperlich, als Mensch.

Die grossformatigen Farbstiftzeichnungen der Zürcher Künstlerin Sabine Schlatter (*1977) wirken auf den ersten Blick unglaublich emotional: wie Reisen ins Innere von unbekannten Körpern, in denen sich Räume öffnen, Abgründe und zärtlicher Halt. Schwarz gibt es nicht in Schlatters Werk. Den Graphit des Bleistifts höchst selten. Rot, Grün, Gelb, Blau in vielerlei Varianten, Violett, Orange, Braun … Ihre Formensprache ist die einer frei konstruierten Organik, Inventionen alles – Körper, Räume, die es so nicht gibt. Und doch gibt es sie – in der Kunst. Schlatter versteht ihre Arbeit als soziale Kartografierung: als ein Dokumentieren, ein Abarbeiten gar von dem, was zwischen und in Lebewesen passiert. Es müssen nicht zwingend Menschen sein: Tiere sind oft sozialer als Menschen. Die Emotionalität von Schlatters Arbeit ist deshalb zwiespältig: Ihre Grundlagen sind durchaus emotional, extrem emotional sogar. Aber in der Verarbeitung dieser Wahrnehmungen werden die Emotionen platziert, geordnet, geformt. Und ergeben letztlich: eine Art von Archiv.

Als «visualisierte Gedanken, als ausgestellte Empfindlichkeit» hat die Basler Künstlerin Franziska Furter(*1972) ihr Schaffen schon bezeichnet. Und eine Thesis über Unsicherheit und Unbestimmtheit geschrieben. Unsicherheit und Unbestimmtheit als Qualität? Ihre Arbeit wirkt letztlich weder unsicher noch unbestimmt. Sie scheut sich aber nicht davor, den Weg in die Sicherheit und Bestimmtheit sichtbar zu lassen: Verletzungen, Scham, Überempfindlichkeit werden verarbeitet zu Kompositionen und Konstruktionen, die diese «Unfälle» und Niederlagen ganz natürlich mit einbauen. Als Wegmarken einer Existenz, die nicht perfekt sein muss. Die perfekt ist gerade auch in ihren Nöten, Ängsten und Krämpfen. Auch Furter baut für die Ausstellung eine Traumlandschaft, eine Zeichnung im Raum, mit schwarzen Röhren und bunten Seilen: eine Mischung aus industrieller Konstruktion, Spielplatz, Gym und Affenhaus. Und sie zeigt neue marmorierte Zeichnungen, die in ihren feinen, organischen Verästelungen, in ihrer Kombination von Führung und Zufall so schön sind, dass es einem die Sprache verschlägt.
Veranstaltungen
Die Veranstaltungen zur Ausstellung drehen sich um Themenfelder zwischen Traum und Wahrheit. Expert*innen äussern sich in Gesprächen dazu: Remo Clematide angewandt auf die Club-Kultur, Anja Derungs auf die Frauen*quote in der Veranstaltungsreihe der «5-Uhr-Thesen», Sozialpsychiater und Psychologinnen in der Veranstaltungsreihe «Willkommen in der Problemzone!». In der Installation von Agnès Wyler, im Zwiegespräch mit den Reder*innen, in Workshops für Kinder und in einer Art Traumwerkstatt, wo wir einander unsere Träume erzählen, erhalten die Besucher*innen der Ausstellung zahlreiche Gelegenheiten, sich selbst aktiv am Gesehenen zu beteiligen. Und schliesslich treten auch die Künstlerinnen selbst in einem Gespräch auf.